Fülszöveg
WLADIMIR JEWGRAFOWITSCH TATLIN
1885—1953
Es gibt kaum einen Künstler, dessen Weltruhm sich mit dem Tatlins messen könnte und der zugleich im wesentlichen so we-nig bekannt wáre wie Tatlin. Sein Name wurde schon 1920 zu einer Losung — die Dadaisten, die den Tod der altén Kunst verkündeten, identifizierten sich mit der Maschinenkunst Tatlins. Seine Konterreliefs, die Raum-Material-Kombinationen, wirkten auf die in Aufruhr befindliche Kunst Mitteleuropas als Revelation, und der Entwurf für das Denkmal der III. Internationale, den man auf der Internationalen Kunstgewerbe- und Industrieausstellung 1925 in Paris zeigte, wurde zum weltbekannten Emblem der russisch-sowjetischen Avantgarde.
Diese Arbeiten spielten in der Kunst jener Zeit die Rolle eines Katalysators. Herausgehoben aus der organischen Einheit, dem geistigen Milieu Tatlins, wurde ihre Bedeutung aber durch die westeuropáische Rezeption und die innere Logik des westeuro-páischen Geisteslebens, dem der Kontext des CEuvres...
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Fülszöveg
WLADIMIR JEWGRAFOWITSCH TATLIN
1885—1953
Es gibt kaum einen Künstler, dessen Weltruhm sich mit dem Tatlins messen könnte und der zugleich im wesentlichen so we-nig bekannt wáre wie Tatlin. Sein Name wurde schon 1920 zu einer Losung — die Dadaisten, die den Tod der altén Kunst verkündeten, identifizierten sich mit der Maschinenkunst Tatlins. Seine Konterreliefs, die Raum-Material-Kombinationen, wirkten auf die in Aufruhr befindliche Kunst Mitteleuropas als Revelation, und der Entwurf für das Denkmal der III. Internationale, den man auf der Internationalen Kunstgewerbe- und Industrieausstellung 1925 in Paris zeigte, wurde zum weltbekannten Emblem der russisch-sowjetischen Avantgarde.
Diese Arbeiten spielten in der Kunst jener Zeit die Rolle eines Katalysators. Herausgehoben aus der organischen Einheit, dem geistigen Milieu Tatlins, wurde ihre Bedeutung aber durch die westeuropáische Rezeption und die innere Logik des westeuro-páischen Geisteslebens, dem der Kontext des CEuvres fremd war, mit der Zeit verándert, und ihr ursprünglicher Sinn kam nicht in vollem Umfang zur Geltung.
Anliegen dieses Bandes ist es, hinter dem so entstandenen unge-nauen Tatlin-Bild die wahren Züge Tatlins zu beleuchten. Allge-mein bekannte Werke werden chronologisch durch seinerzeit in-ternational nicht bekannt gewordene Werke ergánzt, z. B. veröf-fentlichen wir die Entstehungsgeschichte und Dokumentation zu „Letatlin", einem Hauptwerk Tatlins. Darüber hinauszeigt der Band mit Gemálden, Zeichnungen und Grafiken aus frühen und spáte-ren Lebensjahren des Künstlers die Vielseitigkeit seines Lebens-werkes. Des weiteren werden Tatlins Wirken als Bühnenbildner, dem er sich sein ganzes Leben lang widmete, und seine Entwürfe für Industrieprodukte und Gegenstánde für eine „materielle Kul-tur" behandelt. Eine weitreichende, bisher unbekannte Dokumentation skizziert seine Rolle bei der Reformierung des Kunst-studiums, seine Arbeit an den WChUTEMAS und WChUTEIN, die zur gleichen Zeit wie das Bauhaus bestanden, diesem auch in vielem vergleichbar waren, aber doch vollkommen unabhángig davon wirkten, und seine Rolle in der bewegten sowjetischen Kulturpolitik der zwanziger Jahre.
Wer war Tatlin? Ein Ingenieur oder ein Phantast? Das Ideál eines technischen Künstlers, wie ihn Raoul Hausmann lobte, oder
der Schraube strenger Sánger, / Aus der Gilde der Sonnen-
fánger", wie ihn sein Freund Chlebnikow besang? Ein Künstler im modernen westeuropáischen Sinne oder ein Handwerksmeister nach mittelalterlicher russischer Interpretation? Ein Maler, der die Welt in seinen Bildern restlos einzufangen wuftte, oder ein Erfin-der, der sich mit dem Entwurf von nie realisierten Konstruktionen in nicht vorhersehbare Abenteuer stürzte? Da das Herausfordern-de in Tatlins Persönlichkeit den Künstler oft in den Mittelpunkt künstlerischer und politischer Ereignisse stellte, wirft die Darstel-lung seines CEuvres notwendigerweise auch ein Licht auf zahlrei-che bedeutende Ereignisse und Gestalten, Künstler, Schriftsteller und Politiker der russischen und der sowjetischen Gesellschaft. Wir erfahren die Geschichte der künstlerischen Organisationen und Institutionen des Landes vor und nach der Oktoberrevolution. So ist die Tatlin-Monographie zugleich auch eine Zeitgeschichte. Dieses bedeutende Lebenswerk blieb bis heute fast vollkommen unbearbeitet. Bisherige Versuche, z. B. die Tatlin-Ausstellung in den Moderna Museet von Stockholm 1968, waren den Umstán-den entsprechend nur Fragmente. Das vorliegende Buch des Corvina Verlags ist auch international die erste groftangelegte Tatlin-Monographie mit einer möglichst vollstándigen Dokumentation.
Die Idee zur Veröffentlichung eines Buches tauchte wáhrend der
Tatlin-Ausstellung 1977 in Moskau auf, die trotz ihrer bescheide-nen Ausmafce von der Bedeutung der Personlichkeit und des Werkes von Tatlin überzeugte sowie die Notwendigkeit einge-hender Forschungen in den Vordergrund stellte. Initiatorin der Ausgabe, Konsultantin und Organisatorin der Arbeiten war die ungarische. Kunsthistorikerin Éva Korner, eine Expertin der osteu-ropáischen und ungarischen Avantgarde. Die notwendigen Grundlagenforschungen und die Bearbeitung des Materials, die sich auf keinerlei Vorláufer stützen konnte, erforderten einen au-ftergewöhnlichen redaktionellen Arbeitsaufwand, der die Struk-tur des Buches bestimmt. Die Erforschung und Aufarbeitung des Nachlasses und der umfangreichen schriftlichen Dokumente, die sich hauptsáchlich in sowjetischen Museen, Archíven, Bibliothe-ken und Privatsammlungen befinden, muftte mehreren Autoren übertragen werden. Die Mitglieder des Autorenkollektivs, zu dem namhafte sowjetische Fachkráfte gehören, erarbeiteten unter der Leitung von Larissa Shadowa die einzelnen Schaf-fensgebiete in jeweils selbstándigen Studien. Tatlins Maierei analysierte Dmitri Sarabjanow, seine Zeichnungen Wladimir Kostin, seine Entwürfe für Industrieprodukte und seine Buchil-lustrationen Larissa Shadowa — alle drei Autoren sind Kunsthi-storiker. Mit den bühnenbildnerischen Arbeiten Tatlins bescháf-tigte sich die Theaterhistorikerin Flóra Syrkina. Eine zusammen-fassende Beschreibung von Tatlins künstlerischem Lebensweg und seinem ganz spezifischen Werdegang gab Anatoli Strigaljow in der Studie „Von der Maierei zur Materialkonstruktion". Dem monographischen Teil schlieftt sich eine umfangreiche Do-kumentensammlung an, die von Anatoli Strigaljow, Larissa Shadowa und Alexander Parnis ausgewáhlt und kommentiert wurde. Sie enthált zum einen Aufrufe, Eingaben, Briefe und Schriften Tatlins, zum anderen eine Auswahl aus den zwischen 1915 und 1940 über Tatlin erschienenen russischen bzw. sowjetischen Zeitschriftenartikeln. lm Anhang sind Pressestimmen über die Tatlin-Ausstellung 1977 in Moskau angefügt. Das interessanteste Moment dieser Dokumentensammlung, die zum überwiegenden Teil Erstveröffentlichungen enthált, liegt darin, daft sie über Tatlins Lebenswerk hinaus Einblick in die international kaum bekannte und an Wendepunkten reiche Ge-schichte der russisch-sowjetischen Kunst, die künstlerischen Auseinandersetzungen ihres aufregendsten Zeitabschnittes und den Alltag ihres geistigen Lebens gewáhrt. Besonderes Interesse verdienen die fast völlig unbekannten Schriften, welche die gei-stige Verwandtschaft und die menschlichen und künstlerischen Beziehungen zwischen Tatlin und seinem Freund, dem jung ver-storbenen Genie, dem Lyriker Chlebnikow, aufzeigen. Letztere hat der Literaturhistoriker und Chlebnikow-Forscher Alexander Parnis ausgewáhlt und kommentiert.
Die Anmerkungen zu den Studien und die Kommentare zu den Dokumenten liefern áufterst wertvolle Informationen und Erklá-rungen zu Ereignissen, Personen und Institutionen sowie zu Auseinandersetzungen zwischen Gruppierungen und Gegengruppie-rungen, deren Bedeutung dem Leser aufterhalb der Sowjetunion nur verschwommen bekannt ist. Ali das und die ergánzenden Übersichten im Anhang (biographische Angaben, eine Zusam-menstellung der Beteiligung Tatlins an russischen und internatio-nalen Ausstellungen, ein Verzeichnis der Theaterarbeiten Tatlins, die Literaturauswahl und das Register der Institutionen, Künstler-vereinigungen und Ausstellungen) machen diese Ausgabe zu einem grundlegenden Handbuch für die weitere Erforschung des Tatlinschen Lebenswerkes und der russischen Avantgarde. Die meisten der zahlreichen lllustrationen — 350 SchwarzweiR- und 76 Farbreproduktionen — sind ebenfalls Erstveröffentlichungen.
Vissza