Fülszöveg
Am 14. Dezember 1914 hat Carl Spitteler, der spátere Nobelpreistráger für Literatur, in Zürich seine berühmt gewordene Rede „Unser Schweizer Standpunkt" gehalten. Vier Mo-nate vorher war der erste Weltkrieg ausge-brochen. Seitdem hatten sich auch in der mehr-sprachigen Schweiz die Gegensátze zugespitzt. Der deutschsprachige Landesteil war von Sympathien für das deutsche und das öster-reidhtisch-ungarische Kaiserreich erfüllt, in der „welschen" Schweiz fühlte man sich der Repu-blik Frankreich verbunden und hoffte, Italien werde bald auf der „richtigen Seiten" in die-sen Kampf eingreifen. Da erhob Carl Spitteler seine Stimme und beschwor seine Lands-leute, dem Prinzip der Neutralitát im Inter-esse des eigenen Fortbestands treu zu bleiben: „Nein, wir müssen uns bewufit werden, dafí der politische Brúder uns náher steht als der beste Nachbar und Rassenverwandte." Dieser Rede wird in der Schweiz historische Bedeutung beigemessen. In ihr ist ein politi-sches Programm formuliert, das...
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Fülszöveg
Am 14. Dezember 1914 hat Carl Spitteler, der spátere Nobelpreistráger für Literatur, in Zürich seine berühmt gewordene Rede „Unser Schweizer Standpunkt" gehalten. Vier Mo-nate vorher war der erste Weltkrieg ausge-brochen. Seitdem hatten sich auch in der mehr-sprachigen Schweiz die Gegensátze zugespitzt. Der deutschsprachige Landesteil war von Sympathien für das deutsche und das öster-reidhtisch-ungarische Kaiserreich erfüllt, in der „welschen" Schweiz fühlte man sich der Repu-blik Frankreich verbunden und hoffte, Italien werde bald auf der „richtigen Seiten" in die-sen Kampf eingreifen. Da erhob Carl Spitteler seine Stimme und beschwor seine Lands-leute, dem Prinzip der Neutralitát im Inter-esse des eigenen Fortbestands treu zu bleiben: „Nein, wir müssen uns bewufit werden, dafí der politische Brúder uns náher steht als der beste Nachbar und Rassenverwandte." Dieser Rede wird in der Schweiz historische Bedeutung beigemessen. In ihr ist ein politi-sches Programm formuliert, das über alle Spradibarrieren und alle Klassengegensátze hinweg Gemeinsamkeiten der vielen unter-schiedlichen Gruppén betont. Erfüllt von sol-chem Geist, hat dieses föderative Staatsge-bilde „Schweiz" auch die faschistische Bedro-hung und den zweiten Weltkrieg überdauert. Man ist dort vom kalten Krieg nicht verschont geblieben, aber die schon Jahrhunderte wah-rende Tradition der Neutralitát ist dem Prinzip der friedlichen Koexistenz entgegenge-kommen. Schweiz heute — das ist ein Land vieler Gegensátze. Natürlich ist es nach wie vor und mehr denn je ein Finanzzentrum des Imperialismus. Aber es ist auch nach wie vor das Land mit der áltesten demokratischen Tradition Europas.
Von demokratischen Idealen scheint auch heute noch vieles in der Schweiz bestimmt zu werden — etwa die Verwaltungsstruktur von
den Gemeinden bis zum Bundesrat oder das gesamte Schulsystem. Möglich, dafi der Kon-trast zwischen Ideál und Wirklichkeit gerade so viele Lehrer zu Schriftstellern gemacht hat. Es gibt unverháltnismáfiig viele Schriftsteller in den ofíiziellen vier Sprachbereichen (Deutsch, Französisch, Italienisch, Rátoroma-nisch). Kaum einer, der nicht die gesellschaft-liche Wirklichkeit nach ihren humanistischen Zielen befragen würde. So wirkt diese Litera-tur radikal gesellschaftskritisch, ohne dafi sie revolutionár wáre. Sie versucht nur, die viel-gepriesenen nationalen Tugenden, zu denen Demokratie und Neutralitát gehören, beim Wort zu nehmen. Auch das ist SCHWEIZ HEUTE.
Ein Lesebuch aus zahlreichen Texten der letz-ten fünf bis acht Jahre zusammenzustellen war nicht leicht. Drei Verlagslektoren und ein in der DDR lebender Schweizer Schriftsteller habén einige Jahre gelesen, gesammelt, ver-glichen, verworfen, wiedererwogen und immer wieder miteinander beraten. Das meiste von dem, was sie ausgewáhlt habén, weil es ihnen gefallen hat, war in der Schweiz durch die Kritik, durch starke Beachtung beim Publikum oder durch Veröffentlichung in viel-gelesenen Zeitschriften besonders hervorge-hoben worden. Dennoch war nicht umfassende Reprásentanz das Ziel dieser Auswahl. (Denn alléin im deutschsprachigen Teil des Landes sind mehrere hundert Schriftsteller in zwei Berufsverbánden organisiert.) Wichtiger war, in eine solche Sammlung — erstmalig in der DDR — auch Beitráge von Autoren aus der Westschweiz und aus dem Tessin aufzuneh-men. Mit dieser Ausweitung ist der. mit dem Titel verbundene Anspruch zu rechtfertigen: SCHWEIZ HEUTE. Ein Lesebuch ist die be-wufit hinzugefügte Einschránkung, die über-triebene Anforderungen dámpfen soll.
Auf der Innenseite dieses Umschlags befindet sich eine Karte der Schweiz
16,20
Vissza