Nachdenken über Christa T.

Fülszöveg

Selten wohl ist in unserer jüngsten Literatur der Charakter und das Wesen einer literarischen Gestalt so eindringlich dargestellt worden wie bei dieser Christa T., kaum bisher wurde in das Innere eines Menschen so tief hineingeleuchtet. Es wird bohrend danach gesucht, was den Kern dieses Menschen ausmacht. Eine starke Affinität der Verfasserin zu den Empfindungen und Stimmungen ihrer Heldin, äußerstes Feingefühl bei der Wahl und der Wiedergabe der Details — das sind die Grundlagen für ein hohes Maß differenzierter Erfassung des Besonderen und Eigentümlichen dieser Gestalt. Und damit einer außerordentlichen Individualisierung. Die Wirkung dieses Buches, der man sich nicht entziehen kann, ist dadurch entscheidend bedingt.
Die inhaltliche Fixierung der Hauptgestalt kommt dieser Individualisierung entgegen. Christa T. ist ein ungewöhnlicher Mensch. Sie ist anders als andere. Ihre Eigenheiten sind extrem wider-
spruchsvoll. Sie ist scheu und unbefangen zugleich, leidenschaftlich und... Tovább

Fülszöveg

Selten wohl ist in unserer jüngsten Literatur der Charakter und das Wesen einer literarischen Gestalt so eindringlich dargestellt worden wie bei dieser Christa T., kaum bisher wurde in das Innere eines Menschen so tief hineingeleuchtet. Es wird bohrend danach gesucht, was den Kern dieses Menschen ausmacht. Eine starke Affinität der Verfasserin zu den Empfindungen und Stimmungen ihrer Heldin, äußerstes Feingefühl bei der Wahl und der Wiedergabe der Details — das sind die Grundlagen für ein hohes Maß differenzierter Erfassung des Besonderen und Eigentümlichen dieser Gestalt. Und damit einer außerordentlichen Individualisierung. Die Wirkung dieses Buches, der man sich nicht entziehen kann, ist dadurch entscheidend bedingt.
Die inhaltliche Fixierung der Hauptgestalt kommt dieser Individualisierung entgegen. Christa T. ist ein ungewöhnlicher Mensch. Sie ist anders als andere. Ihre Eigenheiten sind extrem wider-
spruchsvoll. Sie ist scheu und unbefangen zugleich, leidenschaftlich und nüchtern, souverän und gleich darauf unsicher bis zur Verzweiflung. Sie kann weltfremd, aber auch sehr realistisch reagieren. Auf ihre Mitmenschen wirkt sie anziehend und unnahbar; sie kann ihnen freundlich begegnen, aber auch so, daß ihnen unheimlich wird. Sich selbst tritt sie mit tiefstem Ernst, aber auch spöttisch und voller Selbstironie gegenüber. Kurz, sie hat — um mit Lord Seymour zu sprechen - den seltensten Charakter Und so außergewöhnlich der Charakter der Christa T. genannt werden muß, so gewöhnlich und normal sind die Stationen ihres Lebens: die Jugend auf dem Dorf, die Nazischule, Kriegsende, Flucht und Umsiedlung, Tätigkeit als Neulehrerin, das Studium und wiederum die Arbeit in der Schule, schließlich Frau eines Tierarztes in Mecklenburg, die Wohnung, das Haus, die Kinder.
Horst Haase
Neue Deutsche "Literatur
April 196? Vissza