Lenins Philosophieren

Fülszöveg

Wie viele Marxisten glaubte Lenin, seine Doktrin philoso-phisch absichern zu können; überdies fürchtete er den Ein-flufi der von Kant ausgehenden deutschen Philosophie auf die russischen Intellektuellen. Die Gefahr schien ihm um so grö-fier, als in Ernst Mach ein Phy-siker zu Wort kam, der die zeit-genössische Naturwissenschaft mit philosophischer Kritik ver-binden konnte. Einer der eng-sten Mitarbeiter Lenins in der bolschewistischen Fraktion der russischen Sozialdemokratie, Bogdanow, hatte sich Mach an-geschlossen.
In seinem Buch 'Materialis-mus und Empiriokritizismus' führte Lenin die schárfsten An-griffe gegen Bogdanow und allé diejenigen, die sich an Mach orientierten, und zwar in einer Sprache, deren Heftigkeit und Veráchtlichmachung solcher Meinungen, die von seinem dogmatischen Materialismus abwichen, in der Philosophie bisher unbekannt gewesen wa-ren. Danach konnte von einem freien Diskurs in zivilisierten Formen nicht mehr die Rede sein. Nicht Philosophen, son-dem... Tovább

Fülszöveg

Wie viele Marxisten glaubte Lenin, seine Doktrin philoso-phisch absichern zu können; überdies fürchtete er den Ein-flufi der von Kant ausgehenden deutschen Philosophie auf die russischen Intellektuellen. Die Gefahr schien ihm um so grö-fier, als in Ernst Mach ein Phy-siker zu Wort kam, der die zeit-genössische Naturwissenschaft mit philosophischer Kritik ver-binden konnte. Einer der eng-sten Mitarbeiter Lenins in der bolschewistischen Fraktion der russischen Sozialdemokratie, Bogdanow, hatte sich Mach an-geschlossen.
In seinem Buch 'Materialis-mus und Empiriokritizismus' führte Lenin die schárfsten An-griffe gegen Bogdanow und allé diejenigen, die sich an Mach orientierten, und zwar in einer Sprache, deren Heftigkeit und Veráchtlichmachung solcher Meinungen, die von seinem dogmatischen Materialismus abwichen, in der Philosophie bisher unbekannt gewesen wa-ren. Danach konnte von einem freien Diskurs in zivilisierten Formen nicht mehr die Rede sein. Nicht Philosophen, son-dem politische Parteiganger standén sich in einem Kampf bis zur Vernichtung gegenüber.
Lenin liefi keine Wahrheit gelten, die von politischen Aus-einandersetzungen unberührt blieb. Für seinen Materialismus nahm er absolute Wahrheit in Anspruch, die seine Partei im Kampf gegen Idealismus und
Religion in die Praxis umsetzte. Dafi Marx schon im Jahre 1844 die Kritik der Religion im we-sentlichen für beendet erklárt hatte, hinderte Lenin nicht, ihr die gröfite Aktualitát zuzu-schreiben. Damit rifi er eine Kluft auf zwischen europái-schem und russischem Geistes-leben.
Ahnlich verfuhr er in seiner politischen Philosophie, die das utopische Ende des Staates mit der aktuellen Beseitigung von Demokratie und Parlamentaris-mus verband. Die Rolle, die seine bolschewistische Partei nach der Revolution in der Ausübung totaler Macht errin-gen sollte, verschwieg_ er vor dem Umsturz. Er glaubte, man könne RuBland nur mit Dikta-tur regieren, für die er den Decknamen der "bewaffneten Arbeiter" einsetzte, die alle ökonömischen und administra-tiven Probleme mit Gewalt lö-sen würden.
'Gewalt' ist das Schlüssel-wort seiner politischen Philosophie, und so bevorzugte er Marx/Éngels-Texte, die die Gewalt als den Geburtshelfer ei-ner neuen Gesellschaft rühm-ten. Sie gehört zum Vermácht-nis Lenins. Andererseits offen-bart sich in seinen privátén Aufzeichnungen zu'Hegels 'Lo-gik' der interessante Aspekt ei-nes zu weltgeschichtlicher Aktion berufenen Mannes im Ringen um das Vermáchtnis eines ganz dem abstrakten Denken ergebenen Dialektikers. Vissza