Fülszöveg
»Das Wasser ist resedagrün und mit Schaum gesprenkelt. Ich stehe neben Kaltesophie und betrachte ein Schiff. Weit draußen ein helles Schiff ein Leuteschiff ein Feier-lagsschiff aus dem unverhofft ein dunkles, betäubendes, himmelschreiendes Heulen hervordringt. Ich schlage langhin und breite die Arme aus. Kaltesophie stellt mich wieder auf und drückt mich mit dem Rücken an eine Hauswand. Wieder und wiederjagt das Schiff dieses Heulen aus sich heraus. Ich halte mir die Ohren zu und höre es trotzdem.«
Das war im Sommer 1939, zwei Monate vor Kriegsbeginn, und ist der Anfang eines Lebenslaufs. Erste Schuljahre im östlichsten Vorort von Großberlin, Faschismus als alltägliche Selbstverständlichkeit, Flucht vor den Luftangriffen aufs Land und im Januar 1945 die Flucht zurück nach Berlin vor der näherrückenden Roten Armee, die Hungerwinter in der Sowjetischen Besatzungszone, die Gründung der DDR, der Eintritt in die Freie Deutsche Jugend: Stichworte fast zu viele für eine Kindheit und...
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Fülszöveg
»Das Wasser ist resedagrün und mit Schaum gesprenkelt. Ich stehe neben Kaltesophie und betrachte ein Schiff. Weit draußen ein helles Schiff ein Leuteschiff ein Feier-lagsschiff aus dem unverhofft ein dunkles, betäubendes, himmelschreiendes Heulen hervordringt. Ich schlage langhin und breite die Arme aus. Kaltesophie stellt mich wieder auf und drückt mich mit dem Rücken an eine Hauswand. Wieder und wiederjagt das Schiff dieses Heulen aus sich heraus. Ich halte mir die Ohren zu und höre es trotzdem.«
Das war im Sommer 1939, zwei Monate vor Kriegsbeginn, und ist der Anfang eines Lebenslaufs. Erste Schuljahre im östlichsten Vorort von Großberlin, Faschismus als alltägliche Selbstverständlichkeit, Flucht vor den Luftangriffen aufs Land und im Januar 1945 die Flucht zurück nach Berlin vor der näherrückenden Roten Armee, die Hungerwinter in der Sowjetischen Besatzungszone, die Gründung der DDR, der Eintritt in die Freie Deutsche Jugend: Stichworte fast zu viele für eine Kindheit und zugleich Stichworte für die Auseinandersetzung mit der Familie, in der die Autorin aufwächst. Der Lebenslauf, den Helga M.Novak er-I zählt, wird von der
Beziehung Mutter-Tochter ebenso bestimmt wie von Krieg und Nachkrieg. Es ist eine Beziehung, wie sie verzweifelter kaum je beschrieben wurde: Angst und vergebliche Liebesversuche, Haß und Verachtung. Die Geborgenheit, in der das Rind bei »Vater« und »Mutter« aufwächst, trügt von Anfang an. Nur in Bruchstücken, lange verschwiegen, dann geleugnet, kommt die Wahrheit zutage. Kennzeichnend für Helga M. Novak ist die Vielfalt ihrer Erzählformen. Monologe und innere Monologe wechseln ab mit Briefen, Zitat-Montagen, Gesprächen und Versen. Die erzählerische Methode orientiert sich an der Entstehung und Entwicklung eines Gedächtnisses. Die Autorin sagt zu keinem Zeitpunkt mehr, als sie mit fünf oder zehn oder fünfzehn Jahren tatsächlich wissen konnte. Erst nach und nach fügen sich die Bruchstücke dessen, was sie von ihrer Herkunft erfährt, zu einem Ganzen zusammen. Das macht die eigentümliche Spannung dieses Buches aus.
Über die Autorin: Helga M. Novak wurde 1934 in Berlin-Köpenick geboren. 1954 bis 1957 Studium Journalistik und Philosophie an der ünlversität Leipzig. 1961 Heirat nach Island, bis 1965 Arbeiterin in isländischen Fabriken, dann Rückkehr nach Leipzig und Studium am Literaturinstitut »Johannes R. Becher«. 1966 Aberkennung der DDR-Staatsangehörigkeit, Rückkehr nach Island. Lebt heute in Frankfurt/Main.
Umschlagentwurf: Fritz Blankenborn
Vissza