Fülszöveg
In den Volkssagen besitzen wir einen unerschöpf-lichen Schatz. In ihnen wird uns nicht nur die tiefe Weisheit vieler Generationen überliefert, sondern sie geben uns auch Einblick in die früheste Entwicklung der Völker. Diese Dichtungen — die áltesten Dich-tungen überhaupt — gehen auf Zeiten zurück, als es noch keine Geschichtsschreibung in unserem Sinne gab, und sie zeigen, wie sich die Menschen einst die Naturkráfte erklárten, welchen Sinn sie ihrem Leben gaben und welche Aufgaben sie sich stellten.
Sturm und Regen, Blitzschlag und Naturkatastro-phen hielten sie f ür das Werk von Gottheiten, die man mit Tier- und Menschenopfern günstig stimmen muftte. Meere und Gebirge, die Luft und das Erd-innere dachten sie sich von ihnen bewohnt. So waren sie in Geisterglauben und Gespensterfurcht befan-gen, und in den Sagen fand dies seinen Ausdruck.
Aber um so strahlender und sieghafter treten uns in diesen Dichtungen die Gestalten der Helden und Befreier entgegen. In ihnen, den...
Tovább
Fülszöveg
In den Volkssagen besitzen wir einen unerschöpf-lichen Schatz. In ihnen wird uns nicht nur die tiefe Weisheit vieler Generationen überliefert, sondern sie geben uns auch Einblick in die früheste Entwicklung der Völker. Diese Dichtungen — die áltesten Dich-tungen überhaupt — gehen auf Zeiten zurück, als es noch keine Geschichtsschreibung in unserem Sinne gab, und sie zeigen, wie sich die Menschen einst die Naturkráfte erklárten, welchen Sinn sie ihrem Leben gaben und welche Aufgaben sie sich stellten.
Sturm und Regen, Blitzschlag und Naturkatastro-phen hielten sie f ür das Werk von Gottheiten, die man mit Tier- und Menschenopfern günstig stimmen muftte. Meere und Gebirge, die Luft und das Erd-innere dachten sie sich von ihnen bewohnt. So waren sie in Geisterglauben und Gespensterfurcht befan-gen, und in den Sagen fand dies seinen Ausdruck.
Aber um so strahlender und sieghafter treten uns in diesen Dichtungen die Gestalten der Helden und Befreier entgegen. In ihnen, den Überwindern der Ungeheuer, der wilden Tiere und unmenschlichen Tyrannen, den Ernpörern selbst gegen die Götter, schufen sich die Völker hohe Vorbilder. In ihnen sehen wir die besten Kráfte der Menschen jener Zeit, ihre kühnsten Tráume und ihre herrlichsten Tatén ver-körpert. Und gerade die Sagen der Griechen zeigen uns eine Füllé solcher, in unvergánglicher Schönheit erstrahlender Heroengestalten.
In Herakles vor allém und in Theseus, dem Befreier von der Bedrückung durch den Beherrscher der Insel Kréta, stehen wahre Volkshelden vor uns, die un-ermüdlich alle ihre Kráfte in den Dienst des Menschen stellen. In der Sage von Jason und den Argonauten wird die Erinnerung an die kühnen Seefahr-ten der Griechen bis an die áuBersten Gestade des Schwarzen Meeres wachgehalten. Das Goldene Vlies, das zu rauben Jason auszog, verrát uns, daft einst in der Kolchis Gold gefunden wurde. Wir lernen in diesen Sagen die Bestrebungen der Menschen, die Welt zu entdecken, die Natúr zu entschleiern und ihre Kráfte sich dienstbar zu machen, kennen, aber auch die frühesten technischen Errungenschaften und kühnen Entwürfe, wie in der Sage von Dádalus. Aus der Sage von Deukalion und Pyrrha z. B. erfahren wir auch, wie sich die Griechen die Herkunft der Menschen zu erkláren versuchten.
So geben die Sagen der Griechen Aufschluft über
die früheste Geschichte und die áltesten Vorstellun-gen eines für die Entwicklung der ganzen Menschheit bedeutsamen Volkes. Daríiber hinaus aber führen sie uns in begeisternden Schilderungen die Helden der Befreiungskámpfe vor Augen und zeigen, wie ihre aufopferungsvolle Treue zu ihrem Volk und ihrer Heimat mit Verehrung und Ruhm belohnt wurde. Ihre Tatén wurden in Liedern gefeiert. Dichter be-handelten sie in Schauspielen und groBen Versepen. Dabei faftten sie oft viele einzelne Sagen und Über-lieferungen zusammen, die ursprünglich nicht zu-einander gehörten, so daft sich in den verschiedensten Sagenkreisen zuweilen áhnliche Partién finden.
»Die schönsten Sagen des klassischen Altertums nach seinen Dichtern und Erzáhlern«, wie der voll-stándige Titel der 1838—1840 in Tübingen erschiene-nen Sammlung heiík, sindein Werkdes schwábischen Dichters Gustav Schwab. Es enthált in seinen ersten sechs Büchern die ursprünglichen Heldensagen des Griechenvolkes. Aus ihnen hat der Herausgeber diese Auswahl zusammengestelit. Sie umfaftt alle wichti-gen Sagen und Iáik hauptsáchlich nur jene Stücke unberücksichtigt, mit denen spátere Herausgeber die Sammlung Schwabs erweiterten. Der Text selber ist in vorsichtiger Weise heutigem Sprachempfinden angeglichen worden. Eine gewisse Schwierigkeit bot dabei die verwirrende Füllé der Namen, Beinamen und Bezeichnungen. Hier hat der Herausgeber, wo es anging, Überflüssiges entfernt und auBerdem dem Band eine kurze Darstellung der Götterlehre der Griechen angeschlossen. Auch ist jeweils den heute gebráuchlichen Namen der Vorzug gegeben worden.
Doch sah sich der Herausgeber nicht veranlaík, die (wie Schwab in der Vorrede zur 1. Auflage seines Buches sagt) in »zwanzigjáhriger öffentlicher und háuslicher Bescháftigung« gewonnene Gestalt leicht-fertig anzutasten.
Möge das in einer Zeit der Erhebung der besten Geister unseres Volkes gegen die Máchte der Reak-tion entstandene Werk auch mit dieser neuen Aus-gabe den Weg zum Herzen unserer (wie es sich Gustav Schwab einst wünschte) »vaterlándischen Jugend« finden. Ihr auf rechte und nachhaltige Weise zu dienen, ist es berufen.
Johannes Bobrowski
Vissza