Fülszöveg
Wer Alexander Solshenizyns berühmte Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" gelesen hat, wird spüren, daß der Schlüssel zum Verständnis der Werke dieses einzigartigen Schriftstellers nicht im äußeren Geschehen, sondern im Inneren des Menschen zu finden ist. Politik, Gesellschaft, Geschichte sind bei Solshenizyn Randerscheinungen. Für ihn ist allein wichtig, wie der Mensch lebt und ob er Gutes oder Böses tut. Unter den unmenschlichen Lebensbedingungen eines Konzentrationslagers der Stalinzeit sündigt der einfache russische Bauer Iwan Denissowitsch wie alle anderen, dreht und windet sich wie alle Sowjetmenschen, denn anders kann man das Leben nicht bestehen. Er bewahrt sich aber seine menschliche Würde, weil er weiß, daß die „im Lager vor die Hunde gehen, die Schüsseln auslecken, auf das Krankenrevier spekulieren oder denunzieren". In der Erzählung „Matrjonas Hof sagt Solshenizyn fast das Gleiche, aber noch eindeutiger: in einem Sowjetdorf lebt unauffällig und still eine...
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Wer Alexander Solshenizyns berühmte Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" gelesen hat, wird spüren, daß der Schlüssel zum Verständnis der Werke dieses einzigartigen Schriftstellers nicht im äußeren Geschehen, sondern im Inneren des Menschen zu finden ist. Politik, Gesellschaft, Geschichte sind bei Solshenizyn Randerscheinungen. Für ihn ist allein wichtig, wie der Mensch lebt und ob er Gutes oder Böses tut. Unter den unmenschlichen Lebensbedingungen eines Konzentrationslagers der Stalinzeit sündigt der einfache russische Bauer Iwan Denissowitsch wie alle anderen, dreht und windet sich wie alle Sowjetmenschen, denn anders kann man das Leben nicht bestehen. Er bewahrt sich aber seine menschliche Würde, weil er weiß, daß die „im Lager vor die Hunde gehen, die Schüsseln auslecken, auf das Krankenrevier spekulieren oder denunzieren". In der Erzählung „Matrjonas Hof sagt Solshenizyn fast das Gleiche, aber noch eindeutiger: in einem Sowjetdorf lebt unauffällig und still eine Gerechte. Ihre Rechtschaffenheit ist einfacher Art, sie ruht in der Arbeit, der Bescheidenheit, der Güte und einer tiefen Menschlichkeit.
Matrjona Wassiljewna Grigorjewa — die Hauptperson dieser Erzählung — ist keine kommunistische Aktivistin. Sie stellt keine Rekorde auf, sie verbessert die Kolchosarbeit nicht, sie nimmt am sozialistischen Wettbewerb nicht teil. Matrjona ist eine schlichte Frau, die keinerlei innere Beziehung zur Sowjetmacht hat. Diese Macht und das von ihr errichtete sozialistische Regime ist für sie die Außenwelt, in der sie zu leben gezwungen ist, auf das Innenleben Matrjonas aber übt sie nicht den geringsten Einfluß aus.
Aus dieser Erzählung Alexander Solshenizyns kann man vieles über das Leben im sowjetischen Dorf erfahren. Man spürt die Freudlosigkeit und die Schwere des Alltags, doch ist für Solshenizyn dieser Alltag nur der Hintergrund, auf dem er die Menschen, die Gerechten wie die Ungerechten zeichnet. Nicht zufällig schließt er die Erzählung mit den Worten: „Wir alle lebten neben ihr und hatten doch nicht verstanden, daß sie jene Gerechte war, ohne die, wie das Sprichwort sagt, ein Dorf keinen roten Heller wert ist. Auch nicht die Stadt. Und unser ganzes Land." Die Kurzgeschichten Solshenizyns wurden in der Sowjetunion nicht veröffentlicht und das ist verständlich, denn sie widersprechen dem Geist des Kommunismus. Wie in „Matrjonas Hof" werden darin weder die Sowjetmacht noch die kommunistische Partei beim Namen genannt, sind aber unsichtbar anwesend, als böse, lebens- und menschenfeind-
Vissza