Fülszöveg
Macht des Menschen: Erinnern
msM
Kinder wissen es, durch die Märchen, die sie suchen. Märchen sind Erinnerungen, verdichtet an vergangenen Zeiten. Alte Völker wissen es: ohne Tradition, ohne die Lebensmacht der Erinnerung, kann keine Gesellschaft bestehen. Wer keine Vergangenheit hat, hat keine Zukunft. Wer keine Geschichte hat, muß sich eine erfinden. »Geschichtslose Nationen« erfanden ihre Geschichte und beriefen sich dabei auf erlauchte Ahnen: auf Homer, auf einige der großen Dich-ter-Finder der Bibel, auf Vergil und Dante und ihre geistigen Söhne.
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Welche Chancen hat eine ZiviHsation, die glaubt, ohne die Vergangenheit leben zu können? Was wäre der Mensch ohne Erinnerung? Nicht Bürger, nicht Staatsbürger wäre er, sondern eben nur Einwohner, ohne die ständig gepflegte, gebildete Kraft des Erinnerns, die bewußt unsere Vergangenheiten in uns arbeiten läßt, um in Gegenwart und Zukunft bestehen zu können. Er wäre ein einschichtig eindimensionales Lebewesen, taktlos...
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Fülszöveg
Macht des Menschen: Erinnern
msM
Kinder wissen es, durch die Märchen, die sie suchen. Märchen sind Erinnerungen, verdichtet an vergangenen Zeiten. Alte Völker wissen es: ohne Tradition, ohne die Lebensmacht der Erinnerung, kann keine Gesellschaft bestehen. Wer keine Vergangenheit hat, hat keine Zukunft. Wer keine Geschichte hat, muß sich eine erfinden. »Geschichtslose Nationen« erfanden ihre Geschichte und beriefen sich dabei auf erlauchte Ahnen: auf Homer, auf einige der großen Dich-ter-Finder der Bibel, auf Vergil und Dante und ihre geistigen Söhne.
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Welche Chancen hat eine ZiviHsation, die glaubt, ohne die Vergangenheit leben zu können? Was wäre der Mensch ohne Erinnerung? Nicht Bürger, nicht Staatsbürger wäre er, sondern eben nur Einwohner, ohne die ständig gepflegte, gebildete Kraft des Erinnerns, die bewußt unsere Vergangenheiten in uns arbeiten läßt, um in Gegenwart und Zukunft bestehen zu können. Er wäre ein einschichtig eindimensionales Lebewesen, taktlos (da kontaktlos), eine amorphe Masse, die sich zu Tode langweilt, zu Tode vergnügt, zu Tode arbeitet. Wer vergißt, tötet etwas in seinem Leben ab, tötet oft sehr viel im Leben seiner Mitmenschen ab (die er als Mitmenschen eben auf Grund seines »Vergessens« gar nicht wahr zu nehmen vermag), tötet in Volk und Staat und Nation. '
Heinrich Benedikt, einer der vielseitigsten und anregendsten Historiker Österreichs, der Jüngling Heinrich Benedikt» legt nun in seinem 10. Lebensjahrzehnt ein Buch der Erinnerungen vor. »Jüngling« ist hier nicht als ein Witz-Wort, sondern wörtlich zu nehmen: geistig jung, spirituell jung, offen mit dem Mit-Menschen im Heute, da offen allen Vergangenheiten, offen für die Zukunft.
Dieser Erinnerungsband schließt mit 1918, mit einer Würdigung der kaiserlichen Armee, in der sich das Alte Reich, das alte Österreich verdichtet, komprimiert, als ein vielfarbiges Leben darlebte. Die Armee, das Reich des Kaisers Franz Joseph, die Geistes- und Kulturgeschichte Alt-Österreichs, im Dreieck Wien-Prag-Budapest, indieses schöpferische Alt-Österreich führt nun die Familiengeschichte des Heinrich Benedikt ein.
»In meiner Familie ist Österreich.« Wissenschafterund Wirtschafter, Industrielle und Männer der Hochfinanz, skurrile Existenzen, auch scheiternde Existenzen, sehr oft aber Menschen auf dem Zenit ihres Erfolgs: im Glanz von Reichtum und von Geistesreichtum, im Lichte einer Sonne, die erst unterging, als die kaisergelbe Sonne von Schönbrunn erlosch: Finis Austriae. Das Ende Österreichs auch als Tor in den Tod: für Altösterreichs Juden, an deren Reichtum und Bildungsreichtum Benedikt erinnert.
»Ich bin ein Österreicher, ein Barockmensch.« Heinrich Benedikt steht in der erlauchten Tradition jener großen Gelehrten der österreichischen Barockwelt, an die hierzulande erst wieder der große Historiker Alphons Lhotsky so eindrucksvoll erinnerte. Barockes Geistes-Leben ist dies: ein Zusammenfügen der schönen Künste, der Wirtschaftswissenschaften, der Historie, mit der Rechenkunst der Nationalökonomie, der bildenden Künste, mit der Kunst zu leben, zu lieben, zu sterben: ars vivendi, ars amandi, ars moriendi. Barock-Leben, das ist eine hohe Unbefangenheit, im Bewußtsein, mit Konflikten leben zu müssen, in dieser »Monarchie der Gegensätze«, die Heinrich Benedikts Heimat ist: unvergeßliche, unzerstörbare Heimat der Seele.
Friedrich Heer
Vissza