Fülszöveg
„Anna Karenina" ist die Geschichte eines Ehebruchs und damit gleichzeitig eine Kritik an der Gesellschaft der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Anna Karenina kommt zu ihrem Bruder zu Besuch und lernt dort den Grafen Wronskij kennen. So sehr sie sich gegen die Leidenschaft, die sie zu ihm erfaßt, wehrt, erliegt sie ihr schließlich doch und verläßt Kind und Gatten, dessen Fehler und Unzulänglichkeiten ihr mit einemmal deutlich vor Augen stehen. Ihr Zusammenleben mit Wronskij steht jedoch unter keinem glücklichen Stern: aus Angst, er könne ihrer überdrüssig werden, steigert sie sich in eine Eifersucht, die sie immer häufiger häßliche Szenen heraufbeschwören und zum Schluß den letzten Ausweg wählen läßt, der ihr noch blieb. Parallel dazu läuft die Geschichte von Kitty und Ljewin, die auf ihrem abgeschiedenen Gut glücklicher werden als im sittenlosen Treiben der Großstadt. In diesem Roman ist Tolstoj also ein skeptischer, sozial-religiös engagierter Beobachter der Gesellschaft...
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„Anna Karenina" ist die Geschichte eines Ehebruchs und damit gleichzeitig eine Kritik an der Gesellschaft der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Anna Karenina kommt zu ihrem Bruder zu Besuch und lernt dort den Grafen Wronskij kennen. So sehr sie sich gegen die Leidenschaft, die sie zu ihm erfaßt, wehrt, erliegt sie ihr schließlich doch und verläßt Kind und Gatten, dessen Fehler und Unzulänglichkeiten ihr mit einemmal deutlich vor Augen stehen. Ihr Zusammenleben mit Wronskij steht jedoch unter keinem glücklichen Stern: aus Angst, er könne ihrer überdrüssig werden, steigert sie sich in eine Eifersucht, die sie immer häufiger häßliche Szenen heraufbeschwören und zum Schluß den letzten Ausweg wählen läßt, der ihr noch blieb. Parallel dazu läuft die Geschichte von Kitty und Ljewin, die auf ihrem abgeschiedenen Gut glücklicher werden als im sittenlosen Treiben der Großstadt. In diesem Roman ist Tolstoj also ein skeptischer, sozial-religiös engagierter Beobachter der Gesellschaft seiner Zeit, in deren Wirklichkeit private und kollektive Motive so unlöslich miteinander sind, daß sie nicht in der Form einer gradlinigen Reportage, sondern nur in der mehrstimmigen Instrumentierung neben- und ineinanderlaufender Handlungszüge verständlich gemacht werden können. Während Heimatkunst, Landschaftsbilder, bäuerliche und adlige Wirklichkeit sowie auto-(Fortsetzung auf der rückwärtigen Klappe)
(Fortsetzung von der vorderen Klappe)
biographische Reminiszenzen dem Frühwerk Tolstojs seine stoffliche Lebendig-keit geben, verliert in „Anna Karenina" Tolstojs Werk seinen volks- und feudalgläubigen Optimismus und wendet sich gegen die merkantile und moralisch erschütterte städtische Gesellschaft. Hier stützen sich Kunst und Gewissen und stellen einander zugleich in Frage. Die kompositorische Souveränität, mit der in „Anna Karenina" Figuren, Ideen und Handlungen schicksalshaft verflochten werden, erscheint Tolstoj selbst als Verführung des moralischen Auftrages durch die Form.
Epische Ruhe, Klarheit und Majestät atmen die Werke Tolstojs, der es verstand, die Wahrheit des Lebens hellsichtig zu erfassen und plastisch zu gestalten. Wo er gegen diese Harmonie verstößt, geschieht es nur, um seinen anarchischen Groll gegen alle herkömmlichen Formen des menschlichen Zusammenlebens Ausdruck zu verleihen: in Tolstojs Widerstand gegen die zeitgenössischen Lebensformen findet der idealistisch-weltliche Liberalismus des Westens seine extreme, fast selbstzerstörerische Form.
Tolstojs Werke zeigen, daß er den Zwiespalt In seinem eigenen Wesen selbst erkennt. In „Anna Karenina" hält er Abrechnung mit sich selbst, und Ljewln, der bäuerische Agrarrevolutionär, will er selbst sein.
Vissza