Der letzte Christ

Fülszöveg

Franz von Assisi hat nicht lange gelebt:
44 Jahre (1182-1226), und nur 20
Jahre lang war er der »kleine Bruder
Franz«, wie er sich in seinem Testa-
ment genannt hat und als der er fort-
dauert.
Das Geheimnis seiner Wirkung bis
heute: Er wagte es, jenen Jesus Chri-
stus hartnäckig wörtlich zu nehmen,
auf dessen Name eine Milliarde Chri-
sten noch immer getauft sind. Franzens
Verhalten - ein befremdliches, ärger-
liches Verhalten, nicht nur in unseren
Augen, sondern auch in den Augen
seiner reichen Familie, seiner Mitbür-
ger - strahlte in wenigen Jahren über
ganz Europa und hat seine Aura bis
heute nicht verloren.
Gleichgültig kann man diesem Franz
nicht begegnen, der Aussätzige um-
armt, der sich öffentlich seiner Kleider
entledigt, um eine geflickte Kutte
überzuziehen, der kein Geld anrührt,
als Unbehauster umherzieht, Zikaden
zur Ehre Gottes singen läßt und in
Erfüllung des Gebotes der Liebe
gegen jedermann bedenkenlos freund-
lich ist.
Als Franz... Tovább

Fülszöveg

Franz von Assisi hat nicht lange gelebt:
44 Jahre (1182-1226), und nur 20
Jahre lang war er der »kleine Bruder
Franz«, wie er sich in seinem Testa-
ment genannt hat und als der er fort-
dauert.
Das Geheimnis seiner Wirkung bis
heute: Er wagte es, jenen Jesus Chri-
stus hartnäckig wörtlich zu nehmen,
auf dessen Name eine Milliarde Chri-
sten noch immer getauft sind. Franzens
Verhalten - ein befremdliches, ärger-
liches Verhalten, nicht nur in unseren
Augen, sondern auch in den Augen
seiner reichen Familie, seiner Mitbür-
ger - strahlte in wenigen Jahren über
ganz Europa und hat seine Aura bis
heute nicht verloren.
Gleichgültig kann man diesem Franz
nicht begegnen, der Aussätzige um-
armt, der sich öffentlich seiner Kleider
entledigt, um eine geflickte Kutte
überzuziehen, der kein Geld anrührt,
als Unbehauster umherzieht, Zikaden
zur Ehre Gottes singen läßt und in
Erfüllung des Gebotes der Liebe
gegen jedermann bedenkenlos freund-
lich ist.
Als Franz lebte, entschied sich die
Wegrichtung des Abendlandes. Man
brauchte auf einmal Uhren, um die
Zeit verfügbar zu machen, so wie man
sich die Sachen verfügbar machte.
Franz hat an dieser Wegscheide eine
andere Richtung eingeschlagen, und
alle Versuche und Versuchungen, ihn
von dieser Richtung abzubringen, ver-
fingen nicht.
Nach seinem Tode erst wurde umge-
bogen, kanalisiert, was er in Bewegung
gesetzt hatte. Die Institutionen be-
mächtigten sich seiner, und zuletzt
verharmloste man ihn zu einem Na-
turschwärmer und Tierfreund.
Aber er blieb ein Stachel in unserem
Fleisch. Noch immer erreicht uns das
Signal der Flamme, mit der er gezeich-
net wurde, einer wärmenden Flamme
über dem Abgrund der göttlichen
Liebe und dem Abgrund des Nichts.
Noch immer bedarf die Legende von
der Verwandlung des reißenden Tieres
zum »Bruder Wolf« keiner Auslegung
- wir begreifen sie unmittelbar. Auf die
Angst, mit der wir leben, hat Franz von
Assisi eine Antwort; die Hoffnung,
ohne die wir nicht leben können, ge-
winnt bei ihm Gestalt.
Adolf Holl, geboren 1930 in Wien,
Doktorate der Theologie und Philoso-
phie, Universitätsdozent für Religions-
wissenschaft. Von 1953 bis 7972 Kaplan
und Religionslehrer. 1973 kirchliches
Lehrverbot, 1976 als Priester suspen-
diert. Lebt als freier Schriftsteller in
Wien. Seine Bücher wurden in zwölf
Sprachen übersetzt, ihre Gesamtauf-
lage beträgt rund 300000. Vissza